Die ersten zwei Wochen - eine Zusammenfassung
Der Abschied
Wie die Zeit vergeht... jetzt bin ich schon fast zwei Wochen hier. Ich habe so viel Neues erlebt und gesehen, dass mein Kopf gar nicht mehr mit sortieren und verarbeiten hinterher kommt. Aber der Reihe nach:Am 1. September, einem ruhigen Sonntagmorgen, ging es nach einer tränenreichen Verabschiedung von meiner Schwester Annika im Auto zum Frankfurter Flughafen. Nach tränenreichem Warten am Check-In-Schalter checkte ich tränenreich ein, bezahlte tränenreich mein Übergepäck und versuchte noch etwas zu essen und zu trinken. Einige Tränenausbrüche später kam dann die Verabschiedung von meinen Eltern und meinem Freund Philip, wohl der schwerste Teil meiner Reise. Schweren Herzens ging es um 11.20 Uhr mit einer kleinen Baltic Air-Maschine nach Riga, wo mich meine Mentorin Ramona und Susis Mentorin Kristela zwei Stunden später erwarteten. Als „Erkennungszeichen“ hatten sie eine Sonnenblume dabei, wodurch sie mich gleich mit einer lettischen Besonderheit vertraut machten. Die Letten lieben Blumen und verschenken sie zu jeder Gelegenheit. Ramona und Kristela fuhren mich dann zu meinem neuen „Zuhause“ in Jurmala.
Jurmala
„Schier
endlos zieht sich der Strand an der Küste 20 km westlich von Riga
hin. Da lag der Name Jurmala („Strand“) nahe, als man 1958 ein
Dutzend Fischerdörfer auf der Landzunge zum Kurort vereinte.“
So wird im
Lettland-Reiseführer mein neuer Wohnort beschrieben. Jurmala hat
etwa 50.000 Einwohner, ist die fünftgrößte Stadt und der größte
Urlaubsort Lettlands. Ich wohne im westlichsten Teilort „Kauguri“
in einer Hochhaus-Siedlung und bin ganz zufrieden damit. Flur, Bad,
und Toilette der Erdgeschoss-Wohnung sind etwas gewöhnungsbedürftig,
dafür sind die Küche und mein Zimmer echt gemütlich. Zwei
Riesen-Supermärkte und die Bushaltestelle sind keine fünf Minuten
entfernt und zum Strand braucht man auch nur knappe zehn Minuten.
Der Strand ist natürlich das
absolute Highlight. Weißer, feiner, sauberer Sand, eingerahmt von
Wald, die wunderschöne Ostsee... Es hat schon was, abends zu sagen:
„Ich geh dann mal eben joggen... am Strand“.
Außer
Kauguri besteht Jurmala hauptsächlich aus Siedlungen mit einer
Mischung aus traditionellen Holzhütten, Einfamilienhäusern und
modernen Villen, immer umgeben von viel Grün. Je näher man dem
Hauptort „Majori“ kommt, desto touristischer wird es und desto
größer, moderner und beeindruckender werden die Villen.
Die erste Woche
Am
späten Sonntagabend kam meine Mitbewohnerin und Mitfreiwillige Susi
aus Österreich an. Viel Zeit zum Kennenlernen blieb da nicht, denn
am Montagmorgen fing auch schon das Schuljahr an. Wir wurden herzlich
von der Schulleiterin Inese begrüßt, die uns ein paar erste
Informationen zur Schule gab. So wirklich unterhalten konnten wir uns
aber nicht, da ständig Schüler mit oder ohne Eltern ins Rektorat
kamen, um Inese zu begrüßen
und ihr Blumen zu schenken
(Schulanfang ist schließlich ein besonderer Anlass). Am Ende des
Tages war das kleine Zimmer
überfüllt mit Blumensträußen;
ein sehr schönes Bild und eine nette Tradition, wie ich finde.
Anschließend fand auf dem
Schulhof eine Feier mit allen Schülern und Eltern statt, wofür sich
alle sichtlich schick gemacht hatten. Die Erstklässler durften
begleitet von den ältesten Schülern „einmarschieren“, es wurden
verschiedene Lieder gesungen, manche Lehrer hielten eine kurze Rede
und auch wir wurden vorgestellt und bekamen je eine Tafel
Laima-Schokolade (was Milka für die Österreicher ist, ist Laima für
die Letten).
Der
Rest der ersten Woche diente erst mal der Orientierung in der neuen
Umgebung und in der Schule. Wir schauten bei ein Paar Schulstunden zu
und stellten uns den Lehrern mit einer Diashow vor. Am Freitag
durften wir die erste Klasse auf einen Ausflug begleiten. Wir
schauten uns das Kinder- und Jugendzentrum in Asari, einem anderen
Ortsteil von Jurmala, an und anschließend wurde gegrillt. In dem
Zentrum werden verschiedene Workshops für die Kinder angeboten, es
gibt einige Tiere (Wellensittiche, Hasen, Mäuse...) und -
interessanter für uns – dort finden sogenannte „internationale
Jugendbegegnungen“ statt,
an denen wir später
mitarbeiten können.
Das erste Wochenende
verbrachte ich damit, es mir in der Wohnung etwas gemütlicher zu
machen und die nähere Umgebung zu erkunden.
Vaivaru Pamatskola
Mein
neuer Arbeitsplatz, die „Vaivaru Pamatskola“ (dt. Vaivaru
Grundschule), befindet sich in dem Teilort „Vaivari“ östlich von
Kauguri. Mit dem Fahrrad fährt
man etwa 15 Minuten durch den Wald zu Schule, die in einem
traditionellen Holzhaus nur 200 m vom Meer entfernt untergebracht
ist. Mein erster Eindruck: einfach alles ist anders als am
Mörike-Gymnasium Göppingen.
Die 140 Schüler sind verteilt auf die Klassenstufen 1 bis 9 und
werden von etwa 15
Lehrerinnen und einem
Lehrer unterrichtet. Wegen
der kleinen Anzahl an Schülern und Lehrern kennt jeder jeden und die
Atmosphäre ist sehr familiär.
Das
besondere an Vaivaru Pamatskola ist, dass es eine inklusive Schule
ist, das heißt Kinder mit und ohne Behinderungen oder
Lernschwierigkeiten lernen zusammen (Inese sagt einfach „children
with special needs“, dt. „Kinder mit besonderen Bedürfnissen“).
Diese besonderen Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich und reichen
von Lernschwächen über verschiedene geistige Behinderungen hin zu
körperlichen Behinderungen wie Blindheit oder Lähmungen. Um
alle Kinder gemeinsam bestmöglich unterrichten zu können, sind
manchmal mehrere Lehrer und/oder Betreuer in einer Klasse. Für
Kinder mit stärkeren Behinderungen gibt es außerdem zwei eigene
Klassen.
Was sofort auffällt
ist das starke Gemeinschafts-Gefühl in der Schule. Außerdem
versuchen die Lehrer durch viele kleine Dinge, den Kindern den
Schulalltag und das Lernen so angenehm wie möglich zu gestalten. Um
nur ein paar zu nennen: Jede Klasse bekommt einen Namen, den sie ihr
ganzes Schulleben behält ( z.B. Kiesel, Sträucher, Sternchen,
Bäche...), die Klassenzimmer sind immer sehr liebevoll dekoriert und
es gibt ein „Wort der Woche“, das die Lehrer in Aufsätzen oder
Bildern aufgreifen können. Das Wort für die letzte Woche lautete
„Freude“.
Der Barfuß-Pfad und die Bilder auf dem Schulhof sind die Werke früherer Freiwilliger. Ich finde die Ideen toll, weil sie in der Schule bleiben, auch wenn die Freiwilligen schon wieder zu Hause sind. Mal schauen ob wir etwas ähnliches machen können...
Die zweite Woche
Meine Aufgabe für die
zweite Woche war es, mir den Unterricht in verschiedenen Fächer und
Klassen anzuschauen und zu entscheiden, welche Stunden ich regelmäßig
besuchen möchte. Das werden vor allem die Fächer Kunst, „Ritmika“
(Volkstanz- das lustigste Unterrichtsfach das ich je gesehen habe)
und „Majturiba un Tehnologijas“ (Hauswirtschaft und Technik)
sein. Dort kann ich die Kinder mit Behinderungen unterstützen und
auch selber Ideen für den Unterricht geben. Außerdem werde ich oft
im Englischunterricht sein, da das eine super Möglichkeit ist,
Lettisch zu lernen. Die Kinder übersetzen vom Lettischen ins
Englische, und ich einfach anders herum.
Am Dienstag durften wir
die Klassen fünf bis neun auf einen Ausflug nach „Dundaga“
begleiten. Die Kleinstadt liegt im Landesinneren in einer ländlichen
Gegend. Zuerst besuchten wir eine kleine Fabrik, die Wolle wie vor
hundert Jahren herstellt. Nach einer Vesper-Pause an einem
idyllischen See ging es weiter zur „Dundaga Pils“, zur Burg. Wir
bekamen eine Führung von einer Dame um die 80, die wirklich sehr
authentisch und lebendig erzählen konnte. Leider haben wir kein Wort
verstanden und die Kinder hatten wenig Interesse an der Geschichte
des Gemäuers. Mehr Begeisterung zeigten sie aber, als wir ein
Theaterstück über die „Grüne Dame“ auf die Bühne bringen
sollten. Die Grüne Dame wurde angeblich im Mittelalter in eine Wand
der Burg eingemauert und soll heute als Geist ihr Unwesen dort
treiben. Wir haben allerdings nichts ungewöhnliches bemerkt...
Am Freitag hatten wir
unsere erste Lettisch-Stunde. Obwohl wir mit den einfachsten Dingen
wie „Ich, Du, Er,...“, Farben und Adjektiven angefangen haben,
hat mir danach der Kopf geschwirrt. Lettisch ist eine schwere
Sprache, weil so gut wie alles an alles angeglichen wird und es sechs
Fälle gibt. Aber ich bin trotzdem motiviert, mich so bald wie
möglich auf Lettisch unterhalten zu können.